Radiohead - Amnesiac

 

Amnesiac

 

Radiohead

Veröffentlichungsdatum: 05.06.2001

 

Rating: 7 / 10

von Kristoffer Leitgeb, 04.08.2018


Das schwierige Schwesterchen von Kid A zwischen Electronica, Jazz und vergangenen Alt-Rock-Tagen.

 

Das zweite Kind ist nie so speziell wie das erste. Kann gut sein, dass das viele Zuspätgekommene schmerzt, aber es ist nun einmal so. Das Flair des Einzigartigen kann ja auch per Definition nur beim ersten Mal herrschen und auch nur da ist alles neu, überraschend, überwältigend. Anders gesagt: Eine vollgekackte Windel ist nur ein einziges Mal weltbewegend und auch nur dann für ziemlich übereuphorisierte Eltern. Jetzt ist das Kunstwerk so ein bisschen das Kind des Künstlers, wobei der das Privileg hat, alle so einzigartig zu gestalten, dass jedes davon gleichermaßen spektakulär, neu und liebenswürdig ist. Dieser Möglichkeit beraubt er sich natürlich umgehend, erschafft er Kunstwerke im Doppel-, Triple- oder Quadruplepack. Das macht zwar Detailunterschiede alles andere als unmöglich, die stilistische Neuerfindung ist aber auf alle Fälle dahin. Was folgt, sind Vergleiche, ist Konkurrenz innerhalb des Kanons von ein und demselben Künstler, aber auch die faszinierende Qualität von Gleichem, das doch wieder ganz anders erscheint. Radiohead bringen es mit "Amnesiac" beinahe so weit, stolpern aber beinahe über die Dimension der geschaffenen Atmosphäre.

 

Die ist im Großen und Ganzen keine revolutionäre Neuerung. "Amnesiac" ist zwar recht eindeutig nicht "Kid A", aber doch irgendwie auf zwei Dritteln des Weges von "OK Computer" zum glorreichen Nachfolger anzutreffen. Es ist also mehr Rock im Spiel inmitten der ganzen Studiospielereien und elektronischen Exzesse, die einer entpersonalisierten, desillusionierten Stimmung entgegenarbeiten. Es ist aber auch mehr Jazz im Spiel, was dafür sorgt, dass den "Kid A"-Sessions tatsächlich ein zweites Album entsprungen ist, dem man trotz der aufnahmehistorischen Verbindung zum Vorgänger einen individuellen Charakter bescheinigen darf. Dieser ist gespenstisch, dabei aber meist nicht so zur dystopischen Unnatürlichkeit entrückt, wie man es von Idioteque kennt. Songs wie Leadsingle Pyramid Song bedeuten einen im Nachhinein veröffentlichten Prolog für die elektronische Unwelt. Der melancholischen Verlorenheit ist man treu geblieben und kombiniert diese mit einem Minimalismus bei Instrumentierung und insbesondere Komposition, der hypnotische Wirkung entfalten kann.

 

Das tut er allerdings nicht immer. Zugegebenermaßen ist das schleppende Klavierspiel des Pyramid Song mitsamt der jazzigen Rhythm Section und den von Streichern und Elektronik beigesteuerten quasi-Walgesängen dazu berufen, einen in seinen Bann zu ziehen. Das allerdings nicht über die volle Laufzeit und auch nicht, ohne einen daran zu erinnern, um wie viel überzeugender Karma Police in dieser Hinsicht war. Gleichzeitig muss man anmerken, dass der stabile, starke Rumpf der LP von Tracks gebildet wird, die Assoziationen zu früheren Tracks geradezu herausfordern. Das kann man gutheißen oder nicht, auf alle Fälle sind das einsame Gitarrengezupfe und die gespenstischen Backgroundgesänge von You And Whose Army? stilistisch nahe dran an Street Spirit (Fade Out), melodisch dafür mit relativ direktem Draht zu Lucky. Das funktioniert, wenn es einen auch nicht überwältigt. Gleiches gilt für Knives Out, das wie der Closer des Debüts, Blow Out, klingt, wäre dieser auf "In Rainbows" gepackt worden. Bei all diesen Verweisen quer durch die Diskographie der Briten, sei erklärend ergänzt, dass diese Songs Alt Rock mit einem Hauch von Lounge-Musik bedeuten, eindeutig zu fragil und emotiv ausstaffiert, um mit dem Schwesteralbum direkt in Verbindung gebracht werden zu können.

 

"Amnesiac" wirkt menschlicher, verliert durch diese Qualität aber mitunter auch an Glanz. Dollars & Cents oder das kurze, der elektrischen Gitarre gewidmete Instrumental Hunting Bears, das sind verschmerzbare, aber zähe Durchschnittsminuten, die keine atmosphärische Kraft ausstrahlen. Genauso geizt man mit kreativen Quantensprüngen, wobei selbst die, wenn sie in Form des endgültig dem Jazz verpflichteten Closers Life In A Glass House daherkommen, störrischen Charakter haben. Zwar finden sich die Band und selbst der gesanglich dort sicher weniger beheimatete Thom Yorke im fremden Genre gut zurecht und vermählen die Performance der Humphrey Lyttelton Band gut mit dem Rock-Fundament, das man selbst legt. Doch die kantige, unnahbare Aura des Tracks ist nicht die gleiche wie im Fall von Kid A oder Climbing Up The Walls.

In dieser Beziehung wirkt "Amnesiac" trotz organischerem und menschlicherem Antlitz zu oft emotionsarm und findet keine Draht zu selbstgeschaffenen, beklemmenden Unwirklichkeit des Vorgängers. Ausnahmen bestätigen diese Regel, sind aber verhältnismäßig selten. I Might Be Wrong baut auf einem trockenen, metallischen Beat auf, spult darüber den immergleichen rauen Riff ab und kreiert damit die perfekte Untermalung für Yorkes ausdrucksstark-flehende Stimme, die gleichermaßen verzweifelt und gefühlskalt wirkt. In ähnlichen Sphären bewegt sich Opener Packt Like Sardines In A Crushd Tin Box, dessen Mischung aus elektronischen Loops, monotonen Synthesizer- und Ondes-Martenot-Einsätzen und dem hier wiederum bis zur Ausdruckslosigkeit verbogenen Gesang ideal an den Vorgänger anschließt.

 

An dieser Stelle sei aber gesagt, dass es nicht der Mangel an Elektronik und Krautrock-Inspirationen ist, der "Amnesiac" schwächeln ließe. Die naturbelassenen, strikt im Alt Rock bzw. schon beinahe in der Klassik verhafteten You And Whose Army? und Pyramid Song sind starke Beispiele instrumentaler Reduktion und spielen sich mit der Einfachheit abseits der diversen Sequenzer, MIDI-Geräte und Studiomanipulationen, die zwischenzeitlich zum Markenzeichen von Radiohead wurden. Gleichzeitig ist es so, dass der jeglicher Beweglichkeit beraubte, in einem kratzigen, trägen Loop gefangene Track Pulk/Pull Revolving Doors die schlechtesten Seiten der experimentell-elektronischen Seite der Band offenbart. Kurzzeitig ist man angetan vom abweisenden Sound, doch die Spielerei entpuppt sich als nutzlos und unatmosphärisch. Was wiederum in der Form nicht für Like Spinning Plates gilt. Trotzdem haftet dem Track ein wenig die Eignung als Negativbeispiel an und zwar in der Form, dass auf "Amnesiac" Ideen präsentiert werden, die in der Theorie eindrucksvoller und spannender klingen als in finaler Form. Rückwärts abgespielte Musik ist an sich spätestens seit Tomorrow Never Knows keine revolutionäre Sache, dass man dann aber Thom Yorke seinen Text rückwärts singen lässt, nur um diese Tonspur dann umzudrehen und also "falsch" betonten, aber in richtiger Richtung laufenden Text herauszubekommen, ist eine Fleißübung, die Respekt abverlangt. Es klingt auch verdammt cool, allerdings so entstellt, dass man nichts mehr wirklich entziffern kann und in der Wall of Sound, die sich da ausbreitet, ein wenig untergeht.

 

Der große Klassiker klingt auf alle Fälle anders. "Amnesiac" ist sowieso keiner, wobei jeder meinen Segen hat, der die LP als faszinierend empfindet. Irgendwie ist sie das und zwar nicht nur als deutlich unterlegenes Vergleichsobjekt zum meisterlichen "Kid A", sondern auch aufgrund der vielen musikalischen Richtungen, die auf gerade einmal zehn Songs eingeschlagen werden. In diesem Sinne ist das fünfte Album der Briten vielleicht sogar das, das ihre Karriere am besten zusammenfasst. Man findet beinahe alles, wofür diese Band in zweieinhalb Jahrzehnten gut war und kann sich mit dem meisten davon anfreunden. Dann eben doch nicht mit allem und es muss auch klar sein, dass das Anfreunden kein gleichwertiger Ersatz für die ummantelnde, eindringliche Atmosphäre des Vorgängers ist. Auf der Suche nach interessanten Rock-Experimenten ist man hier aber gut aufgehoben, nur darf man nicht erwarten, dass die alle fertig sind oder zur großartigsten Sorte gehören.

 

Anspiel-Tipps:

- Packt Like Sardines In A Crushd Tin Box

- You And Whose Army?

- I Might Be Wrong


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