Rammstein - Liebe Ist Für Alle Da

 

Liebe Ist Für Alle Da

 

Rammstein

Veröffentlichungsdatum: 16.10.2009

 

Rating: 6 / 10

von Kristoffer Leitgeb, 01.05.2015


Neue musikalische Pfade führen die Band auf Irrwege und in Schlaglöcher. Ans Ziel kommt man trotzdem.

 

Gibt es einen objektiven Blick auf Musik? Meine Damen und Herren, stellen sie sich dieser Frage, bilden sie Diskussionskreise, schreiben sie Exposés, stellen sie sie in den Kommentarbereich. Um einen Denkanstoß zu liefern und dazu einen großen Schritt in Richtung Selbstbetrug zu tun, lautet die Antwort von Reviewerseite: Nein! Man kann natürlich die Emotion in Gedanken einsperren, ihr den Mund zukleben und darauf hoffen, sie würde sich ihrer Rolle als Komparse in dieser Sache einfach fügen. Man kann auch gleich Zahlenspiele anstellen, um dem eigenen Geschmack die Illusion der mathematischen Wirklichkeit zu verleihen - wer macht denn nur sowas? -, aber man wird nicht drumherum kommen, einem Album mit Erwartungen und Sympathien ausgestattet zu Leibe zu rücken. Wie schaut das jetzt bei Rammstein aus? Nun, ein kurzes Bandpäuschen, davor der einem Flugzeugabsturz gleichende Auftritt von "Rosenrot", der der Hochphase der Band ein jähes und äußerst striktes Ende setzte. So ganz will die Euphorie noch nicht aufkommen...

 

Aber, hey, wir gehen objektiv an die Sache. Da lassen wir uns auch ganz sicher nicht davon beeindrucken, dass die Zeichen bei den Deutschen und ihrer früheren Spielwiese des harten Industrial-Rock, ja, eigentlich schon irgendwie Metal, auf Abschied stehen. Noch ist nicht aller Tage Abend, eine Leadsingle wie Pussy macht es aber etwas schwierig, die Band zu erkennen, die anno dazumal Sonne oder auch nur Benzin als Vorgeschmack für eine LP präsentierte. Was im Sinne des kreativen Evolutionsprozesses noch kein vernichtendes Urteil ist, schon gar nicht, wo Till Lindemanns unheilschwangeres Organ im großteils elektronischen Gewand des Songs weiterhin was hermacht. Stutzig ist man trotzdem, weil die ureigenen Provokationen mit dieser Ode an den Sextourismus offenkundig an Banalität gewinnen, dazu der Gesamteindruck ob der geschliffenen Gitarren und des 80er-Synthie-Sounds leichte Schlaglöcher mit sich bringt.

 

Womit wir eigentlich in medias res sind, denn "Liebe Ist Für Alle Da" ist eine holprige Straße, die allerlei Abzweigungen einzubauen gedenkt, dabei aber auch so manche Sackgasse finden will. Der hymnische Auftritt des eröffnenden Rammlied verpackt all das in sich selbst, startet mit lang nachhallender Solodarbietung von Lindemann, lässt kurz mit altbekannt kernigem Riff aufhorchen, präsentiert sich auf über fünf Minuten aber doch lähmend lethargisch. Und auch die Index-Single Ich Tu Dir Weh ist nur der träge Abklatsch früherer Großtaten, der sich zwar vom Gitarrero Richard Kruspe bei Zeiten retten lässt, die offenkundige Durchschnittlichkeit aber nur prolongiert. Es scheint fast ein bisschen gemütlich dahinzugehen, Härte hin, Härte her. Weil der Gesang durch teilweise fragwürdige Produktion an Zugriff verliert, weil Texte so sehr an einem vorbeigehen, wie man es beim Sextett nicht oft erlebt hat. Und auch weil weder das Gefühl der unerbittlichen Power und Präzision von "Mutter", noch die Balance aus alten Stärken und neuen Methoden zu hören wäre, die "Reise, Reise" ausgezeichnet hat.

 

Doch was interessiert mich mein Geschwätz vom letzten Absatz, wenn mit Waidmanns Heil urplötzlich das Leben wiederentdeckt wird. Vom Waldhorn eingeleitet, bricht ein wohlklingender Sturm punkigen Tempos und metallischer Härte über einen herein, glatt produziert, aber doch mit ordentlich 'grittyness'. Was den Streifzug durchs Jägerjargon zur lohnenden Expedition werden lässt, auf der man in der Folge gern aufbaut. Und zwar auf teilweise bisher unbekannte Art. Wiener Blut trifft einen da zum Beispiel. Inspiriert von den Verbrechen Josef Fritzls, baut der Track mit seinem kurzen Klassik-Intro und der spärlichen Elektronik-Percussion rund um den tiefen Gesang mächtig Stimmung auf, bricht aber mittendrin als Kontrast in manische Härte aus, die den Song mehr und mehr vereinnahmt. Als krasser Außenseiter der positiven Art darf sich aber erst die stimmungsvolle Romantikballade Frühling In Paris so wirklich bezeichnen. Im Akustikgewand, aber mit treibendem Beat und mit einem Till Lindemann in Höchstform, die sich vor allem im Refrain mit den entliehenen Zeilen aus Edith Piafs Non, Je Ne Regrette Rien von der besten Seite zeigt. Der langsame Einstieg der Elektronikabteilung ab Songmitte tut da der Qualität keinen Abbruch.

 

Doch wo gehobelt wird, fallen Spähne. Vor allem dann, wenn der eigene Sound auf der Hobelbank liegt. Ebendas macht dem an Fadesse schwer schlagbaren Closer Roter Sand zu schaffen. Der präsentiert sich noch ruhiger, verzichtet auf Percussion. Damit fährt man weniger gut, erschafft stattdessen zäh vor sich hinfließende Minuten, die der kernigen Stimme wirklich keinen Gefallen tun. Das Urteil gegen diese radikale Abwendung vom ehemals ach so Guten fällt aber vor allem deswegen schwer, weil die komplett hirnlose Brachialnummer B********, ausgeschrieben laut Band Bückstabü - bitte nicht nachfragen, verstehen kann man es nicht -, genau dort landet, wo auch früher die wenigen Totalversager gelandet sind. Ziellose, unharmonisch eingespielte Rifforgien und peinliche textliche Ergüsse sind dann schnell die Folge. Das wird zwar vom auf der Härteskala ähnlich angesiedelten Liebe Ist Für Alle Da bald wieder relativiert, Schwächen gibt's diesmal aber in fast allen Lagern. Und doch kann's der Titeltrack ganz ordentlich, vor allem, weil dieser Band wenig so sehr liegt wie ihre altbekannten beklemmenden Momente, diesmal aus der Perspektive des sexsüchtigen Stalkers. Textlich ein Blick in die eigenen 90er quasi, der mit dem Soundgewand der späteren Jahre wirklich gut harmoniert.

 

Eine Eigenschaft, die die Band hier selten zeigt. Es gibt viel Neues, musikalisch wie textlich. Die Zeiten der brachialen Schock-Rocker sind vorbei, das hat etwas für sich. Gleichzeitig sind aber auch die Tage vorbei, in der die Band einem vielschichtigen Schweizer Uhrwerk glich, das kaum einmal nicht richtig tickte. Vielschichtig ist man mittlerweile in Wahrheit mehr denn je. Nur die Präzision ist verloren gegangen, genauso wie man Durschlagskraft und Dynamik in altbekannter Manier nur teilweise zu hören bekommt. Zum wirklichen Rätsel wird das Album erst, wenn die Deluxe-Edition die beiden klar besten Songs enthält, die man hier zu bieten hat. Die heißen Halt und Donaukinder, sind ganz außertourliche Empfehlungen - wirklich, kann man echt mal reinhören -, aber auch ein von der Band selbst gesetztes Fragezeichen, warum die nicht den Cut geschafft haben. Sie hätten gut und gerne so manches Schlagloch ausbügeln können, das sagen einem Objektivität und Subjektivität in wohligem Einklang. Beide sagen aber auch, dass bei "Liebe Ist Für Alle Da" auf keinen Fall Hopfen und Malz verloren sind, dafür ist die Band dann doch oft zu gut unterwegs.

 


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